Als Kind war Bamberg für mich die Stadt aller Städte, ja eigentlich die einzige Stadt, ich kannte nämlich keine andere. Es war die Nachkriegszeit. Damals war es für mich gar keine „Zeit“ es war halt so. Normal war der Mann vor dem Schuhhaus Zeller am Grünen Markt. Er hatte keine Beine mehr und stand auf seinen Stümpfen in einer Art unten zugenähter Lederhose. Er verkaufte Schnürsenkel und Schuhcreme. Er war genauso groß wie ich.
Dass der Krieg noch nicht lange her war, merkte man auch an der Vorzugsbehandlung, die mein Vater genoss, denn fast alle Bamberger Stadtpolizisten waren Feldwebel in seinem Regiment gewesen. Ich sehe noch, wie sein kleiner VW an erheblich ansehnlicheren Autos vorbei auf den Parkplatz gelotst wurde. Beim Einfahren salutierte der Polizist.
Als meine Mutter einmal reumütig auf der Wache erschien, um einen Strafzettel zu bezahlen, kam sofort ein übergewichtiger Polizist aus dem Hinterzimmer und stauchte den jungen Kollegen am Tresen zusammen: “Die Fraa vo unnern Riddmastä bezohld in Bamberch kanna Strafzeddl.“
Ein Paradies war natürlich das Geschäft von Spielwaren Albrecht in der Austraße. Wir drückten unsere Nasen am Schaufenster platt und bewunderten Steiftiere, Leiterwagen und Modellautos. Gegenüber im Gasthaus zum Specht wurde immer zu Mittag gegessen, weil dort Rotenhan Bräu ausgeschenkt wurde.
Nach dem Mittagessen war ein Besuch bei Onkel Anton an der Reihe. Der wohnt noch heute im Dom droben auf dem Berg. Er war von 1434 bis 1459 Bischof in Bamberg. Sein Epitaph befindet sich am dritten östlichen Pfeiler. Dort hat sich der Arme immer so schrecklich gelangweilt und war froh, wenn wir Kinder ihn am Fuß kitzelten.
Später kamen wir am Schlengerla vorbei. Dort lag einmal ein Mann auf der Straße, umringt von keifenden Weibern: „A Zamgsuffnä, a Sünd un a Schand, wie mer so viel saufn ka, der wenn hamkummd, wenn des meiner wär!“ So ging das einige Zeit hin und her. Mein Vater stand daneben und in eine Keifpause hinein sagte er: „Wenn man euch Weibern so zuhört, bleibt einen ja nur noch der Suff.“ Wir fanden Zuflucht beim Juwelier Triebel an der unteren Brücke, sonst wären wir alle miteinander gelyncht worden.
Regelmäßig musste auch „der Gürtlerschen“ ein Besuch abgestattet werden. Sie führte einen Antiquitätenhandel, eigentlich aber war es ein besserer Trödelmarkt. Bei zweifelhafter Ware meinte sie immer „De is ned andigg, des is höxdens andünn.“ Sie wollte immer rausbekommen, wer unser Vater war. Einmal fragte sie unsere Mutter. „Na, wer glauben Sie denn, dass er ist?“ fragte sie zurück: „Endwedä a Baron oder a jüdischer Rechdsanwald.“
Oft mussten wir zum Schönleinsplatz, dort befand sich Puppenklinik, wo die malträtierten Gefährten meiner Schwester geheilt wurden. Danach ging’s zum Flurbereinigungsamt gleich daneben. Dort gab es einen Aufzug, man stelle sich das vor!
Während Vater Dinge erledigte, fuhren wir unermüdlich Aufzug und waren bald „amtsbekannt“: „Än Rodnhan sei Bagasch is widä do.“
Wenn wir ganz brav waren, gab es in der Konditorei Riffelmacher an der Oberen Brücke heiße Schokolade mit Schlagsahne. Das Gefühl der kühlen Sahne auf der Oberlippe, und dann die kochend heiße Schokolade, ich träume noch heute davon.
Das Auto parkte damals auf dem Maximiliansplatz, die Tiefgarage wurde erst viel später gebaut. Aber den Häddie, den gab es schon – ein Blick in die große weite Welt. „Bei’n Häddie“ gab es alles, was unsere Phantasie ersehnte und natürlich noch viel mehr. Dorthin gingen wir mit unserer Mutter. Mit dem Vater gingen wir immer zu Waffen Schmidt, bevor wir ins Auto stiegen. Dort wurden Patronen für die Gewehre gekauft und dort bekam ich auch mein erstes Taschenmesser. An der Wand hing ein Zettel: „Von innen beschmutzte Lederhosen können zur Reparatur nicht angenommen werden!“