Tante Mine war früh verwitwet, was sie nicht sonderlich bedrückte, denn sie war eine Sandfrau. Sie war nicht aus Sand, vielmehr versuchte der Onkel Wilhelm der Gesellschaft Sand in die Augen zu streuen, indem er die Dame heiratete. Um es kurz zu machen, er war schwul, das sagte man damals aber nicht. Der Sprachmodus, auf den man sich geeinigt hatte war, Onkel Wilhelm sei ein Paragraphenmensch in Anlehnung an den unseligen Paragraphen 175 des alten Strafgesetzbuches. Nach dem Krieg starb Onkel Wilhelm.
Tante Mine wohne nun mutterwindallein auf einer riesigen Burg, von dichtem Wald umgeben irgendwo in Bayern. Tante Mines Kinderlosigkeit war es geschuldet, dass sie sich bei ihren Neffen und Nichten allergrösster Beliebtheit erfreute. Die dame war keineswegs eine Sympathieträgerin, aber Onkel Wilhelm war äußerst begütert gestorben. Wer schaut da nicht über berechtigte Eigentümlichkeit mit dem Auge des Erben liebend hinweg? Wald, Burg, Industriebeteiligungen und einige Mietshäuser in Würzburg musste der Verstorbene zur Gänze seiner Frau hinterlassen, dafür hatte Tante Mine bei der Eingehung der Ehe schon gesorgt. Über die Herkunft der Häuser sprach man übrigens ebenso wenig, wie über die „conditio humana guillermi“. Die Immobilien waren während der Nazizeit in seinen Besitz gekommen, rein zufällig…
Die Nichten und Neffen erkundigten sich auffällig oft nach dem Gesundheitszustand von Tante Mine, einige meldeten sich im monatlichem Rhythmus bei ihr zum Tee an und kurvten dann enttäuscht die Serpentinen talabwärts, denn Tante Mine war äußerst kregel, allerdings klagte sie über Langeweile da droben auf ihrer Burg. Schließlich kaufte sie sich ein Haus auf Mallorca und lernte dort einen jungen Archäologen kennen, der in der Nähe von Alcudia nach Römischem buddelte. Sie fand ihn sympathisch und überredete ihn, statt in der glühenden Sonne Mallorcas in der schattigen Umgebung ihrer Burg zu buddeln. Das tat er dann auch, fand sogar Interessantes und versetzte die Nichten und Neffen in hellste Aufregung:
„Das ist ein Erbschleicher, der hat sicher ein schmieriges Verhältnis mit Tante Mine, den graust’s aber auch vor gar nichts“. Auf diesem Niveau hielten sich die Vermutungen, die schließlich dadurch bestätigt wurden, dass Tante Mine den Archäologen adoptierte. Onkel Herbert, der jüngere Bruder von Onkel Wilhelm meinte, er habe noch nie eine solch elegante Variante der Ehrbarmachung eines ansonsten fragwürdigen Verhältnisses erlebt. Weniger elegant benahmen sich die Nichten und Neffen, denn die Besuche zum Tee endeten abrupt, man fragte auch nichtmehr nach Tantchens Wohlergehen, „hat ja eh keinen Zweck“ war die Meinung aller.
Der zum Grafen adoptierte Archäologe buddelte fleißig weiter und entwickelte sich mit den Jahren zu einem in Bayern angesehenen Experten, bis er eines Tages spurlos verschwand. Tante Mines Mitteilungseifer war gebremst, dennoch stellte sich heraus, dass sie den getreuen Adoptivsohn und Liebhaber eines schönen Sommernachmittages auf dem Söller der Burg mit dem Stubenmädchen beim Versuch der natürlichen Reproduktion überrascht hatte. Die Aussicht von dort droben ist übrigens berühmt.
Es wurde teuer, aber am Ende gelang die Entadoptierung , wegen groben Undanks .Der Archäologe bekam eine Abfindung und gab die Grafenkrone zurück. Tante Mine verhielt sich testamentarisch sehr nobel: Die Mietshäuser in Würzburg vermachte sie dem Jewish Council, die Burg wurde eine internationale Begegnungsstätte, die bis heute von den Erträgen des Waldes und des Restes Ihres Vermögens gehalten wird. Als sie starb, hatte sie die Industriebeteiligungen verlebt, das Haus auf Mallorca kurz vor ihrem Tod verkauft.
Zur Testamentseröffnung erschienen erwartungsfroh die Nichten und Neffen. Der Notar erbrach das Siegel, lächelte, und verlas sodann Tante Mines letztem Willen, der wie folgt begann:
„Das letzte Hemd hat keine Taschen, aber Eure bleiben auch leer“.